Bericht
Am Samstagabend fanden sich aus nah und fern angereiste Lyrikinteressierte im Münchner Kulturzentrum Gasteig ein. Der Lokführerstreik hatte für eine kurze Verzögerung gesorgt, eine Viertelstunde nach dem offiziellen Termin aber war der Vortragssaal der Bibliothek des Kulturzentrums gut gefüllt mit einem gespannten Fachpublikum, und das Finale des Lyrikpreises München konnte beginnen.
Der Vorsitzende des Münchner Literaturbüros, Josef Rohrhofer, begrüßte vom Rednerpult aus das Publikum, hob in seiner Danksagung die Verdienste der Stadt München um den Lyrikpreis hervor, bedankte sich bei den unbenannten Sponsoren und den Vorjuroren Christel Steigenberger, Ulrich Schäfer-Newiger und Kristian Kühn.

(Die Moderatoren)
Dieser wechselte zum Rednerpult und begrüßte die Mitglieder der Jury (nach Sitzordnung): Katharina Schultens, Lyrikerin aus Berlin; Andreas Heidtmann, Verleger des Poetenladen, Leipzig; Wolfram Malte Fues, Lyriker und Germanist aus Basel; Birgit Kreipe, Gewinnerin des Preises 2013, Berlin; Àxel Sanjosé, Lyriker, Dozent an der LMU, München.

Anschließend stellte Kristian Kühn mit kurzem Werdegang und ihren Publikationen die sechs Autoren vor, die aus den beiden Lesungen der Vorrunde ins Finale gewählt wurden.
Das Los ergab, dass sich als erster Markus Hallinger ans Mikrophon setzte und mit ruhigem Vortrag aus seinem Zyklus mit dem Arbeitstitel "Gesummsel" zu lesen begann, woraufhin es schlagartig still wurde im Saal.
Birgit Kreipe zeigte sich überrascht von dem kräftigen, aber einfachen Vortragsstil. Gelesen hatte sie die Gedichte anders: als „sehr melodischen, sehr rhythmischen Gesang“. Sie lobte am Zyklus besonders den Prolog als „unglaublich stark“: Denkmäler haste drinnen im Kopf gehabt. / Pflanzen und Tiere, / im Rucksack den Ruf der Eule, / Salzstangen und grüne Götterspeise, im Ohr / das Gedudel der Ziach. / Pferdegrinsen haste gehabt, eine zerkaute Sprache, ein ziehendes / Pedal, Organ, worauf ein Affe saß, in einer Reihe reimte es sich.

Ein Gesang, dessen Urheber sich zugleich vom Gesang distanziere, „weil er mit Selbstverachtung draufguckt“, auf eine merkwürdige Landschaft, eine hybride voller Phänomene, die nie das seien, als was sie erscheinen, denn das Ich, „das damit ringt, dass diese ganzen Phänomene sich dem analogen Verstehen widersetzen, das mehr durch Zufall überhaupt noch Ich sagt,“ mache sich klein: Beinahe erstickt vom Gestrüpp, sagte ich plötzlich Ich. // Da bin ich wieder mit einem Lot in der Hand / und halte mich an Kreide fest und / an etwas das wie Urwald ist. // Was sich daraus ergibt, ergibt sich unverhohlen.
Eine scheinbar leichte Sprache, fuhr Birgit Kreipe fort, die viele Anspielungen enthalte, etwa das Tandaradei bei Walther von der Vogelweide, aber nicht auf bildungsbürgerliche Weise, „sondern in einem raukehligen Ton – man merkt, dass der Lyriker aus der Mundartdichtung kommt.“
Birgit Kreipe habe alles schon gesagt, was auch sie sagen wollte, schloss sich Katharina Schultens ihrer Vorrednerin an. Gerade dieses „etwas Unfertige, das ständig aus der Wahrnehmung herauskippe“, gefalle auch ihr sehr gut. Denn die Gedichte würden zwar unmittelbar kippen, aber gleichzeitig eine Alternativperspektive aufmachen, die funktioniere. Auch der Eindruck, der Sprecher traue seinem eigenen Sprechen nicht richtig, gefalle ihr gut. „Und gleichzeitig klopft er aber – wie nebenbei – die Sprache ab, das heißt, was die alles kann – evoziert ständig Atmosphäre, Perspektivschneisen, und auch die Selbstironie ist nicht ständig vorhanden, dieser ständige Ironiefilter wie bei anderen.“
Andreas Heidtmann, zuvor auch als – was kaum einer weiß – ausgebildeter Pianist vorgestellt, sah in diesem Text eine Vormusikalität, eine Lakonie. Die Sprache sei kräftig und glaubhaft – man könne den Bildern trauen, sie hätten einen großen Spannpunkt. Aber man hätte die Texte „gewiss etwas schöner vorlesen können.“ Auch könne man an ihrer Struktur, der schriftlichen Darstellung, etwas aussetzen, denn die ganzen Einzüge seien eigentlich unmotiviert. Das hätte bei dieser guten Arbeit durchaus „eleganter gelöst werden können.“
Wie von der Moderatorin Christel Steigenberger mit einem Lächeln schon erwartet, war Professor Wolfram Malte Fues anderer Meinung. Er hörte und las „diese Texte wie ein Experiment mit dem Virtuellen, wie wenn die Sprache mit all ihren Elementen eine Cloud wäre, ein Bienen- oder ein Wespenschwarm, dann könnte es sein, dass sie klänge wie Lyrik. Was sie vor dem Chaos bewahrt und ihren Sound so ein bisschen Richtung Jesse Thoor zieht, sind immer wiederkehrende Symbole wie beispielsweise das Pferd. Sie sind Ordnungspunkte, die aus dem Chaos auftauchen und das Chaos zwar nicht in Grenzen halten, aber ein bisschen ordnen. Was mich stört, sind die manchmal ein wenig selbstgefälligen Zwischenreden des lyrischen Ichs, auf die könnte ich verzichten, dann würds mir noch besser gefallen.“
Was Àxel Sanjosé bemerkte: „dass die Vorgänge, die manchmal schwerer nachzuvollziehen sind, die manchmal ins Phantastische ziehen, niemals im übertragenen Sinne gemeint sind. Das, was da geschieht, geschieht tatsächlich.“
Zum Beispiel: Ich stand, ein Hase, erstaunt, das Fell abgezogen, / über Nase und Ohren, / geschält wie die Sprache.
Da sei also, wo man vielleicht einen abgekürzten Wie-Vergleich erwarten würde, eine Gleichsetzung. Und das durchziehe den ganzen Text, der – was den Rhythmus betrifft – im letzten Abschnitt deutlich ausgeprägter werde. Mit einem plötzlich jambischen Zug gegen Ende hin, „so als hätte die Sprache von selber etwas hinzugefunden“, im Vergleich zu der eher „zerkauten Sprache“, auf die, zu Beginn des Zyklus, immer wieder als „lädiert“ hingewiesen wird.
Es folgten die „Dialogikkonzentrate“ von Walter Fabian Schmid. Die vierstimmige Typographie setzte er gekonnt um, so dass das Publikum gespannt auf die brüllende grobheit im lauttumult horchte.
entsetzungsstupor unendlicher gegenwart / die zukunft der krise beginnt tôt / beten die zornassimilanten terroristische / gelöbnisse gegen attrappierte münder / "WE WANT 1 WILL" einstimmigkeit erstickt / meinungen o ersöhnt die stolze sklaverei «PAIX ! / LE FIN IST MEHR SO EINE ART BUMMELEI» / ruinismusflanerie mit tabula rasa gospels / das sittliche moment des stillstands ein not / fall des zeitgeists

Andreas Heidtmann, der die Gedichte in der Vorausscheidung nicht gehört hatte, ergriff das Wort und erklärte dem noch überraschten Publikum, dass ihm Walter Fabian Schmids Texte Spaß beim Zuhören gemacht hätten und er sich gut unterhalten gefühlt habe. Er lobte die „kuriose Wortkombinatorik, Sprachentkleidungen, eine unglaubliche Vielfalt an Konnotationen, was ich im Einzelnen an den Gedichten wahrscheinlich gar nicht aufschlüsseln kann. Da muss man das einfach glauben, da alles kombiniert wurde, und vor allem auch die Selbstironie, das ist natürlich hier sehr wichtig und auch sehr spannend und legt immer wieder neues Gewicht in die Gedichte hinein.“ Es handle sich um „zum Teil ganz raffinierte Schöpfungen“. Doch das Handicap sei, man könne, wenn man Sprache zersetzt und so damit in der Kombinatorik arbeite, nur sehr schwer eine Metaphorik aufbauen, „das heißt, es erschöpft sich dann irgendwann relativ schnell, vermutlich.“ Er ergänzte aber beschwichtigend: „was ich aber bei diesen Gedichten noch nicht gespürt habe“ – und: „Das ist ein Handicap, mit dem man leben muss, wenn man so stark sprachzersetzend arbeitet. Aber, wie gesagt, ich finde das einen tollen Versuch, mir hat es gefallen.
Wolfram Malte Fues kamen die Gedichte nicht so originell vor, sein erster Eindruck war: „Dada reloaded, und damals war natürlich eine andere Zeit, in der Semantik Ideologiekritik war; mir gefällt das durchaus, auch die Mehrsprachigkeit, die Polygraphie, die Dada natürlich auch schon benutzt hat, die Wort-Zusammensetzungen, ich würde es allerdings sehr viel spannender und entspannter finden, wenn nicht alles auf derselben Ebene, sondern selbst reflektierend geschrieben wäre. Man kommt sonst in die Gefahr der Monotonie.“
Verschiedene Sprecher fand Katharina Schultens erstmal spannend. „Ich sehe allerdings auch, dass sich so ein Verfahren irgendwann totläuft.“ Was ihr aufgefallen ist, ein Trick, den viele anwenden: „ein Wort im Zeilensprung zu teilen und dann eben eine Doppelbedeutung des Wortes zu schaffen, das ist ein schöner Trick, den kann man mal machen, aber hier ist es exzessiv verwendet“, man könnte auch mal andere Varianten suchen, um ein bisschen mehr aufzumachen und der Monotonie entgegenzuwirken. „Aber insgesamt hat mir das wirklich gefallen.“
Es gefalle auch ihr, bestätigte Birgit Kreipe, das habe sie bereits gesagt [in der Vorrunde], „klar, erschöpft sich das irgendwann. Und das, wovon es handelt, was es beschreibt, was es kritisiert, was es vorträgt, ja auch. Ich glaub, es ist schwer, über Internet-Blödsinn und Diskurswahnsinn wirklich auf Dauer aufregende Gedichte zu schreiben.“ Das, wovon die Gedichte handeln, sei im Konzentrat Kommunikationsmüll, den man schwer so aufbereiten könne, dass daraus eine Dramatik oder Dramaturgie in Steigerung entstehe, „insofern bin ich, was die Monotonie betrifft, der Meinung, dass noch recht dagegen gehalten wurde.“ In diesem Zyklus stecke „wirklich unglaublich viel drin“ – man müsse es aber eigentlich lesen und nicht hören, sonst bekomme man nicht mit, wie komplex und fein gearbeitet er sei. Sie habe den Zyklus als Parodie auf die Internet-Diskurshölle gelesen, die vielen Debatten, die Reizüberflutung, Feingesponnenes neben archaischen Reflexen. Etwas irritierend empfände sie aber die anarchische Form, diese Kritik, die darin stecke, sie sei nämlich schon ein wenig zu sehr zustimmungsfähig, jeder Gebildete würde da sofort ja sagen, diese Form sei, intellektuell gesehen, fast schon main stream.
Es sei wirklich schon alles gesagt worden, meinte Àxel Sanjosé, der als letzter der Juroren an der Reihe war: Allerdings wolle er die Frage in den Raum werfen, ob das Argument, irgendwann einmal könne etwas monoton werden, jetzt für die Gedichte legitim sei. Zukunftsperspektive müsse hier jetzt bei der Entscheidung ausgeschlossen werden. Es stünde nur zur Debatte, was jetzt schon zu bewerten sei.
Dann nahm Tobias Roth am Stehpult Platz und begann mit einer ruhigen, fast verklärten Stimme seine Gedichte vorzulesen.
Àxel Sanjosé meldete sich als erster zu Wort und bekannte sich zu dieser dezidierten „Hinwendung zur Tradition mit Anspielungen, Zitaten, mit dem Aufgreifen auch antiker Formen“, zum Beispiel beim zweiten Gedicht, seinem Lieblingsgedicht, „Brasilas und Bianor“, seien es Hexameter. „Wenn man nachschlägt, findet man beide Namen bei Vergil und in den Eklogen bei Theokrit und stellt irgendwann fest, dass diese Namen auf Gräbern eine leere Referenz darstellen, man kommt nicht richtig dahinter, wer damit gemeint sein könnte. Wir haben es hier mit einem Fall einer leeren Referenz zu tun, und das wirkt auch auf die Gemachtheit des Gedichts selber zurück.“

Dort die zersprungenen Grabmäler: Namen, aber zwei hohle / Namen. Hinter ihnen ziehen sich keine Fäden. // Grab und Krater unbezeichnet, des Landes vertrieben. [...]und durch die engen Spalten im Kerker / Kommen keine Bienen mehr, den gefangenen Schäfer / Durchzufüttern mit gemischten Blumen vom Pfropfreis. / Salz auf die Stümpfe der Ölbäume, Siedlungen über die Hügel.
Geschrieben nicht nur in versteckten Hexametern, ein sehr dichter Text, und versteckt auch der Inhalt: Grab und Krater – ein ungeheurer Vorfall – sind des Landes verwiesen, „und plötzlich befindet man sich in einem Kerker, das sprechende Ich ist eingesperrt. Da kommen keine Bienen mehr, Symbole der Poesie, die Schäfer sind plötzlich gefangen, und dann kommt Salz auf die Ölbäume, auf die Wunden – es ist plötzlich diese ganze Aktion, diese Bukolik, in ihrem insgesamt niedlichen, positiven Inventar hinterfragt. Und das hat mir eben sehr gut gefallen, während es an anderen Stellen manieristisch, ja manieriert wird. Und darüber habe ich noch keine endgültige Entscheidung für mich selbst getroffen.“ Als Hilfe sah Àxel Sanjosé eingeschobene Kommentare an, dieser Perspektivwechsel zum Schluss hin auf ein Du, das vorher nicht da war, das nehme er persönlich und stehe „in diesem Zwiespalt zwischen einem sich verlierenden, noch gerettet werden wollenden Erbe, kulturellen, reichen Erbe, das ich einfangen will und das mich aber vielleicht schon als überaltert erreicht.“
"Ich bin ihm so richtig auf den Leim gegangen", begann Birgit Kreipe, „und hab erst nach und nach entdeckt – dieses Bild kann man ja anschauen im Netz – dass die Bildbeschreibung, die ich gelesen habe, überhaupt nicht die Bildbeschreibung ist, sondern auch das ein Verweis ist. In den ersten vier Zeilen hat das noch ein bisschen was mit diesem Bild zu tun, aber dann wird was ganz anderes beschrieben. Es taucht ein ganz anderes Bild auf, auch eine ganz andere Person als dargestellt, das finde ich raffiniert, weil es vordergründig diesen Ton, der sich so stark anlehnt und so stark alte Literatur aufruft, konterkariert, als ein Maskenspiel entlarvt.“ Sie sagte dann, es sei ein Blick, der in den Spiegel gehe, dass man, wenn man ein Kunstwerk sähe, sich darin spiegele, also ein gebrochener Blick, geprägt durch viele Sehweisen, und der eine Landschaft beschreibe, die schon zum Zeitpunkt, als die Originalkunstwerke beschrieben wurden, so nicht mehr existierte, also schon damals idealisiert war. Dieses Verfahren habe sie beeindruckt. Für sie habe es aber nicht einmal wie ein antiker Text geklungen, sondern „wirklich wie so eine deutsche Übersetzung eines antiken Textes.“ Eine kostümierte Stimme, die sich vieles anverwandle, die aber dann plötzlich etwas ganz anderes mache, „da tauchen dann plötzlich eine israelische Siedlung und Politik auf, das fand ich sehr interessant vom Verfahren.“ Schade hingegen fand Birgit Kreipe, dass dieses Verfahren sich mit bukolischer Lyrik auseinandersetze, denn dadurch entstehe kein eigener Ton. Außerdem, beim Fayancen-Gedicht (es heißt: „Gebetsnische“), die irreale Beschreibung der Kirchenfenster mit den wimmelnden Insekten, die sie wirklich sehr schön fand, da bräche das Ganze in die Klischeekiste ein, wenn von Erotik die Rede sei (Denn es spiegeln sich darin / Jene dichten Haare, vom Wind bewegt, / Jene schmiegsamen Schenkel.)
Wolfram Malte Fues wollte auch beim zweiten Gedicht bleiben und sah darin nicht nur Hexameter, sondern sogar Distichen. „Das geht zwar nicht ganz auf, aber das braucht es im modernen Gedicht ja auch nicht. Was die Namen angeht, das Spiel kann man ein bisschen weitertreiben, also bei Brasilas, einen Buchstaben ein bisschen verändern, dann bekommt man den Brasidas, einen berühmten spartanischen Feldherrn, der Geschichte gemacht hat im Krieg mit Athen durch seine besondere Brutalität, er hat tatsächlich Salz auf die Ölbäume und Stümpfe gestreut. Was an sich verboten war, eine der ältesten Kriegsregeln, Weinstöcke und Ölbäume werden nicht angefasst. Und was den Bianor angeht, das war der legendäre Gründer von Mantua, der Heimatstadt Vergils. Und außerdem Epigrammatiker – also mit diesen Dingen kann man natürlich, wenn einem das Freude macht, sehr viel weiter spielen. Die Texte enthalten übrigens ja Anweisungen, wie das gehen soll: die letzten beiden Zeilen, die vorgelesen wurden, sind: „Aufgelesen, zerstreut, / Zerstreut, zusammengesetzt.“ Und ich finde, im zweiten Gedicht funktioniert das gut. In den anderen Gedichten funktioniert es nicht so gut, weil da die Tradition und ihre Elemente sich sperren und als sperrig stehen bleiben. Das liegt am Gesamtton der Texte. Mir ist darin noch ein bisschen zu viel Hofmannsthal. Der Hofmannsthal-Ton ist ja der, der gegenüber der Tradition zu Goethes und auch Rückerts Antike, den Ton des Rettenden hat, der Ehrfurcht, der sich bewusst ist, es müsse etwas bewahrt werden. In den Zeiten des Netzes, von der Cloud und der digitalen Speicherung, muss nichts mehr bewahrt werden. Wir müssen einen anderen Umgang damit finden, einen freieren, einen spielerischen.“
Den Unterschied zwischen Walter Fabian Schmid und nun Tobias Roth, fand Andreas Heidtmann, sehr schön, „dass da ein so großer Gegensatz ist – unglaublich, was sich da für ein Kosmos auftut! Und was diese Gedichte angeht, hab ich vieles ergoogelt.“ Doch das Problem für ihn sei, dass man zwar spüre, was für ein Wissen dahinter stecke, aber den wahrhaft Wissenden erkenne man daran, dass er schweige oder einfach verstehbar sei, etwa so wie Goethe. Hier aber spüre man ganz bewusst die Machart, was er schade fände, diesen Diskurs so auf die Renaissance zu rücken. So viel zu wissen wäre heute keine Kunst mehr, denn bei Google habe man viel mehr, „und deswegen macht es auch keinen Sinn mehr, so viel Wissen in die Gedichte zu transportieren, dass könnte Google besser. In 10 Jahren kann Google solche Gedichte schreiben im ganzen Spektrum.“
Im Publikum raunte es. Und er habe noch ein Problem, wenn er ein Gedicht höre, „das Worte enthält wie Rosengarten, ewiger Stern, Blütenstaub und so. Dann hör ich auf zu lesen. Das ist einfach für mich nicht mehr in die Gegenwart hineinreichend. Ich vermisse den Gegenwartsbezug, für mich ist das epigonal.“
„Ich bin jetzt fast geneigt zu widersprechen“, begann Katharina Schultens, „der Punkt ist der, man muss erstmal versuchen, der Sprache zu vertrauen.“ Es sei ja auch nicht ohne, zu sagen: ich schreibe jetzt diese Art von Gedichten, das sei erstmal sympathisch. Aber sie sei sich auch nicht sicher, ob diese Art immer trage und funktioniere. Ihr habe am besten das letzte Gedicht gefallen, weil es an vielen Stellen harmlos daherkomme, aber eigentlich ein ganz brutaler Umstand beschrieben werde:
Ein Rudel Schafe. // Und die Wälder antworten. // Der Schrei trägt nur eine Landschaft weit, / Pan und was anfangs mit dem Schweigen war, / Wind das Weiß rot, gebrochen Blumen und Gras. / Ein Tier gerissen, in Stücken. / Für ein paar Strümpfe wird es noch reichen, / Waten wir knöchelhoch durch das Weiß, / Und die Wälder antworten. // Aufgelesen, zerstreut, / Zerstreut, zusammengesetzt.
Bei „schmiegsamen Schenkeln“, da sei sie aber allergisch, das Sprecher-Ich ihr dermaßen unsympathisch, das mache das ganze Gedicht kaputt. Und das sei dann schade.



Eine zwanzigminütige Pause gab dem Publikum Zeit, sich im Foyer oder an der frischen Abendluft zu erholen und das Vernommene zu diskutieren. Ein emphatischer älterer Herr mit scharfer Aussprache, der seit der Oberschule Gedichte schreibe, erläuterte dem geduldigen Mitveranstalter, Lyriker und Mitherausgeber des signaturen-magazins Ulrich Schäfer-Newiger, dass die heutigen Dichter nicht ar-ti-ku-lie-ren können! nur schreiben. Gegen neun Uhr fand sich das Publikum im Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig vollständig wieder ein.
Mit einfacher, ruhiger Stimme – vielleicht ein wenig monoton, vielleicht passend – setzte Sebastian Unger den Abend fort.
Ihr Sturz der Gewölbedecke / Wellendeckung, eine einstudierte Plötzlichkeit / auf den Waldwegen / als die Kiefer ihrer eigenen Baumhöhe entgegenspringt. Gewahrsam / wie der Fisch dem baugleichen Beutefisch auflauert / bei aufwärtsgerichteten Blick, bis in diesem Körper / schlagartig das Fremde haust, Höhe / z.B. als umgedrehter Fall / der bucklig zu sich heimkehrt von weiter Strecke

„Was mir daran gefallen hat“, begann Wolfram Malte Fues, „dass Sie in Ihren Gedichten Stichworte für Ihre Poetik mitliefern. Es scheinen Texte zu sein, in denen schlagartig das Fremde auftaucht. Das Einschlagsecho löst diese Fremde zwar nicht auf, konkretisiert sie aber, bestenfalls, das gelingt aber nicht immer. Das verunglückt auch manchmal in die identifikatorische Selbstverliebtheit.“ Ist-Sätze seien zudem in der Lyrik gefährlich: „Der Wald ist der Bauch / den der Park beim Einatmen einzieht /“. Definitionssätze verunglücken meistens im Gedicht – hier auch. Was er aber als artistische Leistung gut finde, sei der Text „Aus der Arbeit gerissen“, der über eine assonierende Vierworte-Gruppe ein Gedicht konstruiere. Das muss man können. Was ihm weniger gefalle, seien die Empfehlungs- und Ansprechgedichte, eine Sprachhaltung, die sich mit dem sonstigen „Fremdheitsanspruch“ schlecht vertrage.
Ja, das sei ihr auch aufgefallen, eröffnete Katharina Schultens ihre Kritik, diese bestimmte Art, Fehler ins Muster zu sprechen: „Da hab ich den Eindruck gehabt, es geht so haarscharf an der Beschreibung vorbei, die man vielleicht erwartet hätte, und das irritiert dann für den Moment.“ Dieses poetische Verfahren beschreibt das Gedicht "Jemand als ein Photo am Mittag" in den ersten Zeilen: Die bestimmte Art Fehler ins Muster zu sprechen / schön durch so viel neue Sprache / einzeln gegangen durchs Öhr, Haar- / risse und Feigen über die Straße hinweg / offene Stellen
Was Katharina Schultens zum Beispiel sehr gut fand, in „Satzbau, Wohnform“:
nur das analphabetische Stochern des Finken / hinter ihm / eine fernerrückende grobe Emotion / zum Auslesen steckt er einfach zu tief / in der eigenen Speise, alles Sätze / die durch Leiserwerden enden, die Röhre / die es schluckt, im Kauen bebaubar, der Hauskau
Da lese man dann automatisch Hauskauf oder Hausbau – „solche Sachen sind immer wieder da, über Assonanz. Und ich fand aber dann die Texte am stärksten, die skizzieren, also Szenen aufmachen, die szenisch arbeiten, also auch das Gedicht „Aus der Arbeit gerissen“, während ich zum Beispiel „Vor dem Wald / kann man sich nur in den Park retten“ (nicht so gut finde), da ist es zerfasert an gewissen Stellen, das wird dann disparat.“
„Was ich auch interessant finde, begann Andreas Heidtmann, wieviel Naturlyrik in Anführungsstrichen wir heute Abend hier haben, […] ja und ganz zauberhaft gelungene Bilder: die Vögel, die in den Ohren wohnen. Auch die Bildsprache hat mir sehr gut gefallen, die ganz unerwartet, unverhofft anknüpft, unvorhersehbar. Dann haben wir das schon erwähnte Personifizieren der Natur: die Kiefer, bis ihr Wind hineingreift // mitten ins Gebiss. Ein bisschen kritisch würde ich manchmal sehen, dass Wörter hier fast technokratisch minutiös sind. Ich hab dann auch so gewisse Probleme mit dem Wort als Etikett, Beschriftungsetikett.“ Das könne man natürlich machen, aber dem Gefühl nach müsse es nicht gar so hyperpräzise sein. Das nehme ein bisschen die Poesie weg. Außerdem werde immer wieder beschrieben, mit relativ gebräuchlichen Wörtern, noch und nochmal eingeschränkt, als hätte der Autor Angst, man verstehe etwas nicht. „Aber da verlässt man sich vielleicht auf den Leser, in dem so ein Bild dann entsteht, ohne dass man in solcher technischen Präzision sie vielleicht wiedergeben muss. Ansonsten gefallen mir die Gedichte sehr, manche sind verhakelt ein bisschen aus meiner Sicht, dann passt es am Ende meines Erachtens nicht mehr so ganz, das Mosaik oder Puzzle.“
„Also ich hatte nicht den Eindruck“, ergriff Àxel Sanjosé das Wort, „dass die Texte fürchten, dass der Leser sie nicht versteht – sondern sie legen es geradezu darauf an.“ Er habe sich Gedanken darüber gemacht, was die besondere Schwierigkeit in manchen Gedichten sei. Zum Beispiel in dem Gedicht, das ihm am besten gefalle: „Satzbau, Wohnform“, nämlich dass zwei Prozesse, das Schreiben als Teil der Sprache – und das Essen und dann noch das Bauen von Wohnungen, in eins gesetzt werden:
Ein indisches Gewürzarchiv zwischen den Zähnen / der Schriftzug des Holzwurms ohne Abstand / es sich selbst noch einmal vorzulesen / weitergeschrieben, kartiert die Speicherkammern / mit einem lebenslangen Satz / auf de, Beschriftungsetikett vollzieht sich ohne Lücken / das Essensprechen als das eßbare Gebäude selbst / es abzuschreiben fehlt die Zeit / und Interpunktion
Und dieses Ineinssetzen „ist natürlich erstmal eine große Verwirrung für den Leser – ich zumindest lese erst einmal von der Normalsprache her und sehe eigentlich einen Widerspruch da im Essen, das irgendwie etwas ist, das Material wegmacht, und Schreiben, das eher ein umgekehrter Prozess ist. Und hier das Gemeinsame ist das Organ Mund, das für Sprache und Essen bestimmend ist und beides zusammenhält, und dass hier eben diese Gleichung, die auf der semantischen Ebene existiert, in die referentielle Ebene übertragen wird, so dass Sprache hier die Referenz bestimmt und nicht auf sie verweist, sondern sie sozusagen überhaupt erst entstehen lässt. An anderen Stellen bin ich entweder zu blöd, was herauszubekommen, oder ich will es vielleicht dann nicht mehr, weil ich vielleicht nicht genug berührt werde. Und dann sind eben diese Fehler in den Mustern, die ich verfolgen müsste, mir zu groß oder zu schwierig, so dass ich keine Nähe mehr zum Text entwickle. Zwischen den beiden müsste ich dann jetzt abwägen.“
„Satzbau, Wohnform“ sei genau das Gedicht, meinte Birgit Kreipe, das ihr am wenigsten gefallen habe. Und zwar deswegen, weil es sich auf Hauskau, Hauskauf und Hausbau reime. Deshalb sei es ihr zu gewollt erschienen. „Ansonsten geht es in diesem Gedicht um das Essen, und das ist eine Sinnlichkeit, die mir manchmal in einigen anderen Gedichten fehlt.“ Was ihr aber wirklich gut gefällt, sind die vorhin erwähnten Stellen, die man zunächst nicht verstehe, auch wenn man sich darum bemühe, weil sogleich eine andere Drehung passiere und schon der Versuch, den man gemacht habe, wieder passé sei durch die nächste unerwartete Wendung. Sie finde die Texte „sprachlich sehr gut und sehr souverän gearbeitet, mit einem feinen Gefühl für Rhythmus, und sie kommen wie selbstverständlich daher, erzählen aber total rätselhafte Bewegungen.“ Sie würden eine innere Spannung haben, und selbst wenn man sie nicht verstünde, funktionierten sie als Textgebilde, also etwas hielte sie zusammen wie ein Tonus. „Was ich manchmal problematisch finde, ist die Sprödigkeit, also, was mir verkopft vorkommt.“
Wer noch über die Gedichte von Sebastian Unger diskutierte und den Antritt des nächsten Dichters verpasst hatte, wurde jäh aus den Gedanken gerissen. Konstantin Ames war zum Stehpult gegangen und hatte sogleich mit heftigem Vortrag begonnen:
Ey, Platz da, Fetzen! Ich muss meinen Heli kriegen!, was unmittelbar für Stille im Publikum sorgte.

Zwei mit /'Abgeschlagenem'/ sah ich heute (auf einer Bank) / sitzen. Man darf vermuten: durch Ejakulation gezeugt; siezen / ist ihnen genetisch nicht möglich, siezen würde ich sie nicht, / sie, die, mit den Wanzen unter der Haut, kann sein der Natur‐ / Lederjacke, die spannt, einer zweiten Haut gleich, sie die / neulich erst zum ersten Mal wen plattgemacht haben, diese / Verbrecher, sie würde ich nicht siezen, sie sind meine Brüder. / Niemand lässt die Köpfe tiefer hängen; niemand ist den Tasten so / nah.
„Ja also, was mir aufgefallen ist“, fand Katharina Schultens, „man kann jetzt durchaus eine Parallele ziehen zum Vortrag, wie ihn Walter Fabian Schmid gemacht hat, aber es ist ein ganz anderer Gestus, eine erzählerische Arbeit, die mehr an Szenerie aufmacht. Ich mag, dass die Texte trotzdem sehr sprachbewusst vorgehen, ich mag auch, dass sie sehr spielerisch sind, mir gefällt diese ziemlich motzige Umweltbetrachtung, wobei man auf der anderen Seite fragen kann, wie lange diese sozusagen „trägt“, dieses etwas misanthropische Element, dieser Ekel. Da sehe ich auch die Verbindung zu Walter Fabian Schmid, dass man sich über was ekelt und darüber schreibt.“ Sie habe schon in der Vorrunde ein Problem mit diesem Distanzierungsmechanismus gehabt, der immer wieder aufgemacht werde in Beziehung zum lyrischen Ich. Aber es gebe zahlreiche Bezüge, nicht nur den Ekel, sie seien auch sehr konkret. Interessant, was wohl passiert mit dem ganz konkreten Vokabular, das auch sehr gegenwartsbezogen sei, oder zeit- oder historisch bezogen, wenn dieses älter werde. Also, ab wann so ein Text bereits vom Vokabular her als historisch einzustufen sei.
Die Frage habe sich Andreas Heidtmann auch gestellt, wie das sei, wenn man in zwanzig Jahren diese Wortkombinationen, die man aus dem Jetzt verstehe, höre, das könnte dann sogar interessanter sein, ebenso bei Walter Fabian Schmids Texten.
Bei Konstantin Ames handle es sich um „sprachanarchische Heimatgedichte“, die sehr viel Fleisch, sehr viel Substanz haben, deren Grundlage, das sei die Heimat, „wir haben da die Straßenbezeichnungen, ich habe da auch wirklich nachgeschlagen, bei Google Net, und das Ganze spielt im Bereich des Saarlands zur Grenze mit Frankreich“ – deshalb seien die Einsprengsel der Umgangssprache und die Dialektvarianten berechtigt. Das allein unterscheide Ames von rein sprachanarchischen Dichtern. Dann der historische Bezug, der immer wieder da sei, diese Jagdflugzeuge, das sei zwar martialisch-chauvinistisch, aber trotzdem gut, wie eine Manie, auch diese Hubschrauber, das lyrische Ich als Jagdflugzeug. Mit dem Kopf sei er dagegen, aber es gefalle ihm, „die Gedichte sind aufgeladen mit Material, den verschiedenen Sprachansätzen, bilingualer Mundart, Fachjargons, das beeindruckt mich.“
„Ja, ich komme natürlich wie immer aus einer anderen Richtung“, sagte Wolfram Malte Fues. „Wenn ich da zuhöre, dann hör ich eine ganz bestimmte Wortstimme, und zwar die von Kurt Schwitters. Kernsatz bei Schwitters: Wort gegen Wort zu werten, da haben Sie die Kampfrhetorik und die Kampfpoetik, die als poetische Grundsätze hinter den Texten stehen, das heißt also, ich zitiere, es gehe darum, das Wortmaterial aus den traditionellen Assoziationen zu lösen, freizumachen für neue und damit zu jonglieren. Da besteht natürlich immer die Gefahr des Kippens, der wird hier damit begegnet, dass strenge Formen angewendet werden, da wird das Sonett bevorzugt, das ist kein Zufall, ähnliche Formelemente, Reime und beinah Reime sind ja immer sehr starke Bindemittel – Reime, die haarscharf an den wirklichen Reimen vorbeigehen, Modulationen von Buchstäblichkeit, wo man sofort erkennt, wie das die Fäden zieht, über den ganzen Textkörper, Vokalkompositionen und – als Sahnehäubchen – das angeschnittene Hofmannsthal-Zitat. Ich finde das sehr unterhaltsam, mir gefällt das beim Zuhören, auch wegen des Materialreichtums – es stecken aber für mich drei Gefahren darin: die erste: wenn man so exzessiv mit ausgeschnittenem Wortmaterial arbeitet, mit Klischees, mit Namen, mit Alltagsmaterial, dann besteht irgendeinmal die Gefahr, dass das Material das poetische Verfahren überwältigt. Das zweite Problem sehe ich in der Monotonie, also das Verfahren wiederholt sich ja dauernd, wäre variierbar, variiert sich hier aber nicht. Und die dritte würde ich nennen: Überdrehung durch Überdeterminierung, das ist ja ein Verfahren, wenn man da die Schraube immer weiter dreht, das geht ja, dann wird es immer schneller und es wird immer enger, und irgendwann besteht die Gefahr, dass man an sich selber erstickt.“
Der mal sehr kraftmeierische, mal sehr verballhornende Ton, der auch sehr gelehrt ist, habe Birgit Kreipe gefallen. Vor allem das erste Gedicht, das zweite auch. Drittens „Victors eklatantes Saarrücken (Vorspruch und Sprüche)“, aber das habe er nicht gelesen. „Das ist so sprachanarchisch – ich finde es unglaublich voll mit Anspielungen, der Papst taucht auf, der Krieg taucht auf. Es geht immer wieder um das Schreiben, um Poesie.“
Als Victors Tante Victor keine Schokolade aus Belgien mitbrachte, / floh er für 35 Eurocent nach Luxemburg; Karl König blieb / buntscheckig zurück im Milieu, Empörer. Ganz ohne Apotheose / Blöde Faune sehn wir reden, Nursonne! / Dada-Boy aus Flamen, dreh’s! (Errötet.) Karol weiht Tüten, rosa / Feenrasse komm! Zeugs und ducks, komm, Unpapa! / (Reutersmeldungen flackern von unten her, Flakgranätchen, Stutzer, / widerspiegeln sich an der Faust, die meine Mähne stützt.)
Mit dem folgenden Gedicht („Zuß-Saarlouis, dabb-ba“) konnte sie nicht so viel anfangen, so dass der Senkrechtstart aus den ersten Gedichten abfiel, aber beim Zyklus danach („Machte Zuß eines aus Stecken und Plane“) kämen wieder so kommentierte Aussagen und eine pathetische Ansprache über die Schreibrichtung, für Kreipe ein wunderschöner Schluss: Freunde, ich wünschte, ihr sähet die Wahrheit / und sagtet sie nicht selbstischen Zensoren gleich / Morgen kommt Tippex, sondern wie Trotzki / wie es im Pamphlet steht: / Bisher hat niemand eine Sprache gesprochen, / die nicht nach bürokratischen Profiteuren gerochen! / Freunde ein festes: Wir schon!
Während das “Postpoetische“ sie eher gestört habe, wobei Ames natürlich sehr dicht und anspielungsreich schreibe, es gehe immer auch um einen Kommentar zur Lyrik, manchmal ein wenig zu weit getrieben, was da so mitverhandelt werde (vielleicht liege es an den in Klammern gesetzten Kommentaren) – „aber insgesamt finde ich es sehr kraftvoll, und die Stärke ist die Eigentümlichkeit und der Eigensinn und die Kälte.“
Von der Moderatorin Christel Steigenberger gebeten, sich kurz zu fassen, sagte Àxel Sanjosé, es sei ja sehr vieles gesagt worden, auch über den Zwiespalt, in den auch ihn die Texte schickten, doch da wo das Sprachanarchische eher negativ geschildert worden sei, sehe er das eher positiv. In der Detailarbeit zögen ihn die Texte mehr an, und da, wo er eine Herausforderung sehe, etwas in ihm zuzulassen, auch – zum Beispiel lokale Bezüge, historische Details. Bei dem nicht gelesenen Gedicht („Victors eklatantes Saarrücken (Vorspruch und Sprüche)“) habe er den Eindruck, als wäre es ein Text, der durch Anagrammieren entstanden sei: „Ich habe aber überhaupt keinen Schlüssel dafür gefunden und glaube auch nicht, dass es Anagramme sind, oder es sind Anagramme von anderen Texten, die ich jetzt nicht identifizieren kann, aber der Effekt entstand bei Zeilen wie „buntscheckig zurück im Milieu, Empörer. Ganz ohne Apotheose / Blöde Faune sehn wir reden, Nursonne!“
„Das sind so typische Effekte, die entstehen, wenn ich durch Permutieren von Buchstaben in so eine gezwungene Syntax komme. Das fand ich sehr interessant.“
Zuletzt las Kathrin Bach ihre stark bildhaften Gedichte, die auf Körperteile zielen, unmittelbar die Schutzmechanismen der Intimzone zu durchdringen suchen und dem Leser Körperempfindungen aufzwingen.
AGGREGAT // ich habe den fluß lange fließen gesehen / nun ist er ein durchsichtiges brett / an manchen stellen siehst du fische / ich weiß nicht ob es noch fische sind / im juli presse ich mich nackt darauf / damit ich im august von oben hinein / teil des brettes werde in etwa ein fisch / daraufhin drückst du deinen körper / gegen meine neue glasige umgebung / das brett unter dir verfärbt deine haut / bis du zu mir hinunter schwappst

Àxel Sanjosé erklärte, wie er angesichts der Texte beim ersten Mal (in der Vorausscheidung) ratlos gewesen war. Das habe sich nicht sehr geändert, aber etwas gebessert. Die Bilder, die in den Texten enthalten sind, seien ganz klar surrealer und onirischer Natur, traumhaft, alptraumhaft zum Teil, die bei ihm ein Befremden auslösen, weil das Geschilderte in irgendeiner Form beängstigend sei, besonders im Gedicht "grün": millionen grüne Kaninchen und / ihre felle wie sattel auf den erdrücken gedrückt / den boden gesattelt mit grünem fell / eins ans andere gezwängt zu feld. / zwischen linkem und rechtem auge / liegt die farbe grün und färbt ab / den weizen hinauf den mohn / bald die klauen der kühe / der trog in meinem gesicht ist grün gefüllt / und was ich vernehme schwappt / oder scharrt durstig
Zum Teil auch, weil sich die Bilder manchmal weigerten, verstanden zu werden im Konkreten, dafür aber wieder eine eigene, seltsame, eben auch sehr traumtypische Logik entwickelten, als Beispiel die Möwe im vorletzten der gelesenen Gedichte („Brot“) in stücken aus den fenstern geworfen / die möwen gelockt mein haar ihnen zum fraß / schaufenster und die tiere da hinter dir / ihre weiße fassung das glas mehrere schultern breit / vögel auf dem rasen verteilt richten ihren flug / nach holländischem brot von deiner hand zerbröckelt / mach ich deine lippe zu brotkruste zur kruste / einer frischen scheibe grasubrot führ sie mir zum mund / bis das brot ohne kruste ist weich von einer möwe gekaut
In diesem Gedicht mache das Brot eine Metamorphose durch, es gehe durch verschiedene Figuren, zum Schluss dann tauche diese Möwe auf, der die Ich-Instanz die Haare zum Fraß zu geben hat, und dann habe die Möwe diese Kruste weichgekaut. Diese Verbindung zur Logik, die sich quasi autark in den Gedichten entwickle, finde er sehr reizvoll, so dass das Befremden, das am Anfang da sei, dadurch überwunden werde. „Die Frage, die mir dann trotzdem bleibt, ist, ob ich auch alle diese Metamorphosen und Sprünge mitgehe, ob ich sozusagen mich mit einem Nichtverstehen begnügen kann.“
Traum und Metamorphose seien zwei schöne Begriffe, die auch für Birgit Kreipe, (die in Berlin als Psychologin tätig ist), das ausdrücken, was in den Gedichten passiere. Sie seien sehr bedrängend, auch formal kompakt anzuschauen, und sie erzeugen bei ihr Engegefühle. Trotzdem habe sie sie immer auch als eine unheimliche Art von Liebesgedichten gelesen, „also, es gibt immer ein Du, es geht ganz viel um Grenzen Auflösen, Verschmelzen, Veränderungen, und was für mich die beängstigende Qualität der Texte ausmacht, ist, dass es ein Ich gibt, das kaum die Kontrolle über diese Vorgänge zu haben scheint, die dem Ich irgendwie passieren.“ Das erinnere sie an Bilder von Hans Bellmer, die Spiele der Puppe, diese Körpermetamorphosen haben sie – allerdings in sehr zurückgenommener Form – daran erinnert. Was kritisch an den Gedichten sei, dass sie ihr „manchmal fast zu spröde und ein bisschen zu artifiziell“ vorkommen.
„Ich würde andere Begriffe gebrauchen“, erwiderte Wolfram Malte Fues, „würde nicht von Metamorphosen und Traum sprechen, sondern von Metaphern und Transformation. Ich finde es sehr schön, dass diese Texte jetzt am Schluss stehen, weil sie genau das gegenteilige Verfahren einschlagen von denen, die wir bis jetzt gehört haben. Wir haben bis jetzt Gedichte gehört, die auf Sprachexpansion setzen, jetzt hören wir Gedichte, die das Umgekehrte tun, also auf Sprachaskese setzen, die die Möglichkeiten vermeiden, die sie hätten, und das finde ich eines der faszinierenden Erscheinungen an diesen Texten, immer wieder gibt es in diesen Zeilen Ansatzpunkte, von denen etwas ausgehen könnte. Diese Möglichkeiten werden immer nicht genutzt, bleiben als nichtgenutzt aber stehen. Das nenne ich Sprachaskese, und das ist sehr konsequent durchgeführt. Das mag jetzt auch etwas Bedrängendes haben, aber ich empfinde es nicht als Angst auslösend, sondern als konzentriert.“ Wenn man nicht syntaktisch und semantisch der Logik folge, sondern der Bildlogik, dann seien die Texte auch nicht schwer zu verstehen. Man müsste sie eigentlich Idyllen nennen. „Denn Idyllion heißt ja ursprünglich das Bildchen. Wenn man sich auf diese Logik verlässt, dann sind sie auch folgerichtig.“
„Ja, ich kann Ihnen sogar weitgehend zustimmen“, fuhr Andreas Heidtmann fort, „ich bin ja heute für die Musik zuständig, und ich wollte die Gedichte zuerst poetische Bagatellen nennen.“ Aber das passe nicht, poetische Invention sei der richtige Begriff dafür. „Denn diese ist das, was von einem Einfall ausgeht – den man dann durchführt. Was mich hier überzeugt, ist die Durchführung. Sie setzt etwas und führt es durch. Und das haben wir heute sehr selten gehabt. Es wurde viel mit Material gearbeitet, dahin geschichtet und dorthin, und da schaute was raus und dort schaute was raus. Und hier kommt jemand, hat – sag ich mal – bloß einen kleinen Einfall und arbeitet ihn auf zu einem situativen Gedicht, und das beeindruckt mich, und das ist nicht angestrengt und fast bescheiden.“ Auch dass die Gedichte immer nur wenige Zeilen haben, ohne große klassische Formen aufzugreifen, dieses Persönliche mit einem Du, das ein Partner sein könnte, sei imposant. Und das Gedicht „Aggregat“ mache es ja deutlich, das sei ja fast wie eine Vereinigung.
Es ist die sehr eigenständige Bildgebung, sagte Katharina Schultens, und „dass sich ein Bild quasi durchzieht“, was ihr gefalle. Sie sei sich aber nicht sicher, ob die Metaphern immer funktionierten. „Wenn man Metaphern benutzt, muss man auch eine gewisse Präzision aufbringen, und die ist nicht immer da.“ Ein weiteres Problem, die Haltung. „Aber das ist Geschmackssache, die ich nicht einbeziehen werde bei der Bewertung. Die Haltung dieses lyrischen Ichs interessiert mich nicht.“



Die Zuhörer verließen den Saal, und für die Juroren begann der anstrengendste Teil des Abends. Im Hof des Kulturzentrums Gasteig bildeten sich Grüppchen: Dichter, Veranstalter, Zuhörer; Raucher ... Nach ca. einer halben Stunde fand sich der überwiegende Teil des Publikums im Vortragssaal der Bibliothek wieder ein. Allerdings noch ohne alle Kandidaten, was die Moderatorin Christel Steigenberger dazu veranlasste zu scherzen, der Münchner Lyrikpreis würde diesmal in Abwesenheit der Autoren vergeben.



Doch dann stellte sich Àxel Sanjosé an das Rednerpult: Es gebe zwei zweite Preise und einen ersten. Den zweiten Preis teilen sich: – Kathrin Bach und Konstantin Ames. Bei Kathrin Bach, erläuterte Àxel Sanjosé, gefielen die Transformationen und das Asketische der Sprache; Konstantin Ames’ Gedichte zeichneten sich durch einen expressiven Gestus aus, durch anarchische Sprache und historische Bezüge.
Der erste Preis, hob Àxel Sanjosé an: gehe an Markus Hallinger – ein vehementer Zwischenapplaus brach aus. An seinen Gedichten gefielen die Eigenständigkeit der Texte, die Perspektivschneisen, der unmittelbare Wechsel zwischen Sinnlichem und Konkretem; seine Bereitschaft zum nicht abgesicherten, poetischen Sprechen.

Fotos:
Ulrich Schäfer-Newiger
Im Publikum war der gesprächige ältere Herr nicht zu bremsen. Markus Hallinger, der sich scheinbar nicht auf eine Ansprache vorbereitet hatte, lehnte sich ergriffen ans Pult und sagte: Mir fällt nichts dazu ein. Den Beifall unterbrach Kristian Kühn zur Erheiterung der Anwesenden mit den Worten: Dann gehen wir noch einen trinken ... also, ins Restaurant, meine ich. Und da blieben die Tische von Juroren, Dichtern, Veranstaltern und einem diskutierenden Publikum bis nach Mitternacht umlagert.